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EUROPA - NATÜRLICH - VERBUNDEN

Die Saarbrücker Erklärung

Die Vielfalt an Arten sowie ihren Lebensräumen nimmt ab – in Deutschland, in Europa und weltweit. In der EU befinden sich über 80 Prozent der geschützten Lebensräume in einem schlechten Zustand. Seit 1970 ging der Bestand an Feldvögeln um 80 Prozent und die Insektenbiomasse in den letzten 30 Jahren um über 75 Prozent zurück. Auch der Zustand der Wälder verschlechtert sich zunehmend. Nicht einmal ein Prozent der europäischen Wälder sind noch Primärwälder. 
Es wird stumm auf unseren Wiesen und Feldern, in unseren Mooren und Wäldern und an unseren Flüssen und Küsten. Mit dem Verlust intakter Ökosysteme verlieren wir auch deren Ökosystemleistungen wie die Bereitstellung von Trinkwasser, sauberer Luft und fruchtbaren Böden. Zudem tragen intakte Ökosysteme nicht nur zum Klimaschutz bei, sondern schützen uns auch vor den Auswirkungen der Klimakrise. 
Diesem Abwärtstrend beim Zustand unserer Natur muss ein Ende gesetzt werden. Für uns ist klar: Die Politik muss jetzt entschlossen handeln und dem sechsten großen Massenaussterben sowie der Degradierung und dem Verlust von Ökosystemen wirksame Instrumente entgegensetzen. Damit schützen wir die Grundlagen des menschlichen Wohlergehens für uns heute und für kommende Generationen. 
Dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission kommen dabei eine zentrale Bedeutung zu: Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, wie wir in Deutschland und in der EU die wachsenden Herausforderungen für ein zukunftsfähiges und resilientes Europa erreichen können.
Mit dem Europäischen Green Deal wurden bereits zentrale politische Initiativen für eine sozial-ökologische Transformation auf den Weg gebracht. Dieser Prozess muss nun konsequent und verlässlich weitergeführt werden. Rückschritte wie die Abschaffung des Mindestanteils ökologischer Rückzugsflächen in der EU-Agrarpolitik, der Verzicht auf eine EU-Pestizidverordnung oder die wiederholt geforderte Aufweichung der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie können nicht hingenommen werden. Auch die Antworten auf die jüngsten Proteste der Landwirtschaft und anderer Branchen dürfen keinesfalls im Abbau von Mindeststandards und Förderprogrammen für den Natur- und Umweltschutz liegen. Denn dies kommt uns später umso teurer zu stehen.

Hier können Sie die Saarbrücker Erklärung als PDF herunterladen.

Die Saarbrücker Erklärung ist das Abschlussdokument des 37. Deutschen Naturschutztages und wurde im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung am 25. September 2024 präsentiert und an Vertreterinnen der Politik gegeben.

Bis zum 15.09.2024 war es allen Teilnehmer*innen möglich online auf den Entwurf zuzugreifen und Ihre Wünsche, Ergänzungen und Änderungen  Erklärung digital einzureichen. Ein Redaktionsteam überprüfte die Einreichungen und entschied, welche Vorschläge in die Abschlusserklärung übernommen wurden.

Naturschutz europaweit stärken!

Die vorliegende Erklärung konzentriert sich mit ihren Forderungen auf eine Umsetzung der Verordnung zur Wiederherstellung der Natur (WVO) sowie der Zielvorgaben der EU-Biodiversitätsstrategie, 30 Prozent der Land- und Meeresfläche bis 2030 unter wirksamen Schutz zu stellen. Hier muss ein Vorrang für Naturschutz gelten. Um ein zügiges und effizientes Vorgehen sicherzustellen, sollten speziell auch bestehende Schutzgebiete mit bereits vorhandenen Managementstrukturen gestärkt und weiterentwickelt werden, damit diese ihren Beitrag zur Erreichung der Ziele aus der EU-Biodiversitätsstrategie leisten können. 
Für eine echte Trendumkehr bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt ist es jedoch erforderlich, dass auf den verbleibenden 70 Prozent der Fläche naturschutzfachliche Mindeststandards für alle Nutzungen gelten, um die Erhaltung und die Entwicklung der Biodiversität auf der gesamten Fläche sicherzustellen. 
Für die Europäische Kommission, die Bundesregierung und die Abgeordneten des Europäischen Parlaments ergibt sich daraus folgender Handlungsbedarf: 

  • Konsequente Beachtung von Biodiversitätsaspekten bei allen organisatorischen, programmatischen und regulatorischen Prozessen und Gesetzgebungsverfahren.
  • Einrichtung eines eigenen EU-Naturschutzfonds, der so ausgestattet ist, dass für die beteiligten Akteure langfristige Planungssicherheit hergestellt werden kann. 
  • Umbau der EU-Agrarpolitik hin zu einem Instrument, das einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der Natur- und Klimakrise leistet. Sämtliche pauschalen Direktzahlungen müssen daher in leistungsbezogene, ökologisch zielführende Fördermaßnahmen umgewandelt werden.
  • Konsequente Anwendung der Qualitätsstandards für gute Gesetzgebung, einschließlich der Durchführung von Vorab-Schätzungen der zu erwartenden Umweltfolgen und deren Vermeidung.
  • Kein Abbau ökologischer Mindeststandards bei Planungen unter dem Vorwand des Bürokratieabbaus.
  • Vorlage rechtlich bindender Vorgaben zur Erreichung des Ziels, 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche wirksam zu schützen (davon ein Drittel unter striktem Schutz) sowie zur ökologisch funktionalen Vernetzung dieser Gebiete. 
  • Konsequente Umsetzung von Maßnahmen zur schnellen Erreichung eines guten Erhaltungszustands in allen Natura-2000-Gebieten.

Naturschutz in Deutschland effektiver und langfristig umsetzen!

Die Natur braucht mehr Fläche, auf der sie ihre vielfältigen Leistungen erbringen kann – das ist die entscheidende Botschaft, die sich aus dem Weltnaturabkommen von Montreal, der Wiederherstellungsverordnung sowie der EU-Biodiversitätsstrategie ergibt.
Zur raschen Umsetzung der europäischen und internationalen Vorgaben muss die Wirksamkeit bestehender Schutzgebiete und weiterer bedeutsamer Flächen für den Naturschutz auf mindestens 30 Prozent (davon ein Drittel unter striktem Schutz) der Land- und Meeresfläche deutlich optimiert werden. Dies gilt umso mehr, da die anhaltende Intensivierung der Landnutzung sowie die zunehmende Flächenkonkurrenz einen weiteren, massiven Druck auf die biologische Vielfalt ausüben.
Um auf den Kernflächen des Naturschutzes zu einer echten Beschleunigungsoffensive zu kommen, sind insbesondere folgende Maßnahmen erforderlich:

  • Für die erforderliche Flächenkulisse muss ein Vorrang des Naturschutzes im Sinne eines überragenden öffentlichen Interesses gelten. Die Flächen sind, soweit noch nicht erfolgt, als Schutzgebiete auszuweisen und/oder über die Raumordnung als Vorranggebiete für den Naturschutz zu sichern.
  • Für die Betreuung und Verwaltung der Flächen sind die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel und ausreichend qualifiziertes Personal dauerhaft bereitzustellen. Die Einrichtung von dezentralen Strukturen wie z.B. Naturschutzstationen oder Biologischen Stationen in allen Bundesländern ist dabei besonders empfehlenswert.
  • Auf Vorrangflächen dürfen keine erheblichen Eingriffe und Beeinträchtigungen erfolgen.
  • Beeinträchtigte Lebensräume sind in einen guten Zustand zu überführen.
  • Eine pauschale Privilegierung bestimmter wirtschaftlicher Nutzungsformen gegenüber den naturschutzfachlichen Zielen ist in Schutzgebieten auszuschließen.
  • Für die Wiederherstellung des natürlichen Landschaftswasserhaushalts insbesondere auf Moorböden sind Anreize zur Aufgabe der Entwässerung und Umstellung der Nutzung zu entwickeln. 
  • In Schutzgebieten, den Flächen des Biotopverbundes und Gewässerentwicklungskorridoren sind beschleunigte und vereinfachte Verfahren zur Umsetzung von Naturschutz- und Wiederherstellungsmaßnahmen zu entwickeln, bei denen auch ein angemessener finanzieller Ausgleich für Nutzungseinschränkungen berücksichtigt wird.
  • Die neue Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS 2030) mit ihren Aktionsplänen muss zeitnah mit hohem Ambitionsniveau von der Bundesregierung verabschiedet werden. Dabei sollten die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie und des Weltnaturabkommens von Montreal national wirksam umgesetzt werden und eine rechtlich einklagbare Verbindlichkeit erhalten. Die NBS 2030 muss Bestandteil des Regierungshandelns aller betroffenen Ressorts des Bundes und der Länder werden und alle relevanten staatlichen und nicht-staatlichen Akteure in die Umsetzung effektiv mit einbeziehen.
  • Zur Umsetzung der NBS 2030 und der Wiederherstellungsziele sollte ein Biodiversitätsschutzgesetz mit Sektorzielen und Sanktionsmöglichkeiten als übergreifendes Instrument eingeführt werden. Gleichzeitig muss eine ausreichende Finanzierung für die Umsetzung auf Bundes- und Länderebene sichergestellt und mit einer transparenten und überprüfbaren Erfolgskontrolle verbunden werden.
  • Die Handlungsspielräume zur Umsetzung erforderlicher Maßnahmen für Klima- und Naturschutz (z.B. Duldungspflicht und Vorkaufsrecht) sind finanziell und räumlich zu erweitern.
  • Für besonders relevante Naturschutzvorhaben ist eine naturschutzrechtliche Planfeststellung als Genehmigungsverfahren zur Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen einzuführen.
  • Die aktuellen Anreizinstrumente und Förderprogramme wie das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz (ANK) sind weiter zu verstetigen, auszubauen und zu entbürokratisieren.
  • In Meeresschutzgebieten sollten die Regelungsbefugnisse des BMUV ausgeweitet werden und eine Fachplanung „Naturschutz im Meer“ analog zur Landschaftsplanung an Land eingeführt werden, um die Verträglichkeit aller Aktivitäten zu prüfen. Nullnutzungszonen sind auszuweiten.

In Zeiten eines dramatischen Rückgangs der Biodiversität dürfen sich Maßnahmen nicht allein auf Schutzgebiete beschränken. Der Einsatz von Pestiziden, die Überdüngung der Landschaft, Entwässerungen und Versiegelungen sind in allen Bereichen zu reduzieren. Auch in der „Normallandschaft“ ist sicherzustellen, dass es ökologische Rückzugsräume, Lebensraumkorridore zwischen den Schutzgebieten und extensiv genutzte Flächen gibt. 

Ausblick

In den letzten 50 Jahren hat sich der Zustand von Natur und Landschaft bis auf wenige Ausnahmen kontinuierlich verschlechtert. Das Risiko steigt, dass für zahlreiche Arten Kipppunkte erreicht werden, ab denen ein Aussterben nicht mehr zu verhindern ist. Auch unsere Kulturlandschaft muss daher aufgewertet werden, um die biologische Vielfalt langfristig zu sichern, eine Anpassung von Arten und Lebensräumen an die Folgen der Klimakrisezu ermöglichen und negativeAuswirkungen wie Dürren, Überflutungen oder Waldbrände abzumildern.

Es gibt in Deutschland und Europa viele kleine Restpopulationen seltener und empfindlicher Arten. Wir müssen uns jetzt entschlossen und konsequent für den Schutz dieser Arten und deren Lebensräumen einsetzen, damit aus den bedrohten Restbeständen wieder stabile Populationen entstehen und diese auch für die folgenden Generationen erhalten werden können.

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, muss der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Es ist daher umso besorgniserregender, dass der Naturschutz in jüngster Zeit vermehrt als Instrument der Spaltung missbraucht wird. Mit polemischen Botschaften gegen wissenschaftliche Fakten wird eine zukunftsweisende Umwelt- und Naturschutzpolitik verhindert und der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet. Auch der zunehmende Rechtsruck in Europa stellt für den Naturschutz eine Gefährdung dar. Es droht ein Missbrauch von Naturschutzthemen durch rechte Ideologien und nationalistische Strömungen. Weil die Natur aber vielfältig ist und keine Grenzen kennt, wollen wir Naturschutz in einem geeinten Europa grenzenlos betreiben.

Die Teilnehmenden des 37. Deutschen Naturschutztags appellieren an die Verantwortungsträger*innen, sich für ein freiheitliches, sozial gerechtes und demokratisches Miteinander, einen sachlichen Diskurs sowie für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen als elementaren Teil unserer Daseinsvorsorge einzusetzen. Sie rufen alle Parteien auf, ihrer Verantwortung für den Schutz der biologischen Vielfalt gerecht zu werden und die vorliegenden Empfehlungen in den Programmen zur Wahl des kommenden Deutschen Bundestags zu verankern.